Artemisia Heilpflanzengarten im Allgäu

Ein Bericht über Artemisia, nach einem Interview mit Tilman Schlosser im Sommer 2015

Es war im März 1997, es regnete in Strömen, und der Ort, den Tilman Schlosser besuchte, war „am Ende“. Doch für ihn war es ein Anfang. Irgendetwas hatte dieser Ort nämlich an sich, dieses alte Bauernhaus im Westallgäu mit den brach liegenden 9,5 Hektar Grünland drum herum. Der gelernte Landwirt erwarb Immobilie und Grundstück, „und dann, während ich einige Monate mit dem Ort arbeitete, hat sich die Vision entwickelt“.

Die Vision lautete zunächst ganz schlicht: Heilpflanzen und Kräuter anzupflanzen, und zwar nach den Prinzipien biologischer Landwirtschaft. Das schien damals ziemlich abwegig, aber so war es auch in den späten 1970er-Jahren schon gewesen, als der „Eigenbrötler“ (so Schlosser über Schlosser) als einer der Ersten im Allgäu den biologischen Gemüseanbau ausprobierte.

Die Vision ist heute ein Gesamtkunstwerk, das ein Besucher einmal sogar mit einem „Wallfahrtsort“ verglichen hat: „Artemisia“.

Über 300 Kräuterarten bauen Tilmann Schlosser und seine Mitarbeiter in Stiefenhofen an. Setzen, pflegen, ernten, trocknen: Alles geschieht in Handarbeit, und bei allem können die Besucher die Experten beobachten. Denn der „Artemisia“-Garten ist frei zugänglich. Der Name ist die lateinische Bezeichnung für den Beifuß, die „Mutter aller Kräuter“. Mit ihr hatte Tilman Schlosser seine erste „Pflanzenbegegnung“, die Beifußkette um den Hals unterstreicht die besonders enge Beziehung.

Wer erlebt, wie ehrfürchtig und respektvoll Schlosser die Beete durchstreift, spürt etwas von dieser Energie. Das ist Absicht: „Es ist wichtig, den Heilpflanzen Raum zu geben, damit sie sich entwickeln können – aber nicht nur ihres Wirkstoffs wegen. Wir wollen Heilräume schaffen.“ Tilman Schlosser geht indes noch einen Schritt weiter. Im Grunde, sagt er bewusst provozierend, seien die Kräuter nur „ein Abfallprodukt unserer Arbeit mit der Erde“. Ihm ist es am liebsten, wenn Besucher die Kräuter mit nach Hause nehmen und sie dort einpflanzen. „Wenn sie mit der Erde arbeiten, treten sie in Kontakt mit ihr. Die Heilung beginnt dort, wo die Pflanze wächst.“ Und mehr noch: „Jede Pflanze ist eine Heilpflanze“, glaubt Tilman Schlosser.

Dass sich Menschen nach solchen Momenten sehnen, wundert ihn nicht. Man müsse sich nur all die psychosomatischen Kliniken ansehen, die voll seien von Menschen, denen der Stress über den Kopf gewachsen ist. Die gesellschaftliche Bedeutung, die Schlosser der Begegnung mit der Natur zuschreibt, geht darüber aber noch hinaus. Wie gehen wir mit der Erde um? Schaffen wir für Kinder und Enkelkinder Räume, in denen sie der Natur in Freiheit begegnen können? Wie viel Kontrolle muss sein, und wie viel Wildheit erlauben wir uns? Große philosophische Fragen, die im Allgäuer Kräutergarten aber auch eine ganz handfeste Seite haben.

Das Indische Springkraut ist ein Beispiel dafür. Es ist das Schreckgespenst vieler Naturschützer und Waldbauern. Sie fürchten, dass das schnell und hoch wachsende Kraut die heimische Vegetation verdrängt. „Ich habe keine Angst“, sagt Tilman Schlosser und zieht Vergleiche. „Wir leben in einer globalisierten Welt. Die Pflanzen sind schon immer um die Erde gewandert, und viele haben ja wir Menschen erst in unseren Kulturraum gebracht. Jetzt sollten wir der Sache ihren Lauf lassen.“ Diese Atmosphäre der zwanglosen Bewusstheit durchströmt die gesamte Anlage. Die Teestube bietet eigene Teemischungen und frische saisonale Gerichte oder Kuchen, auf dem Veranstaltungsprogramm stehen Meditations- oder Räucherkurse, Ausstellungen und Lesungen, ein Hofladen gehört ebenfalls zum Konzept, getreu Schlossers Motto: „Natur, Spiritualität und Kunst sind die drei Eckpfeiler des menschlichen Lebens.“

Dass aus diesem Projekt ein richtiger Betrieb geworden ist und er für 20 Mitarbeiter Verantwortung trägt, irritiert Tilman Schlosser selbst am meisten. Nachdenklich stellt er fest: „Ich bin bei manchen Dingen nicht mehr da, wo ich sein möchte, weil ich auf die materielle Seite achten muss.“ Anmerkung der Redaktion: Tilmann Schlosser ist 2016 gestorben

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